Mittwoch, 20. Dezember 2017

Tyll - Daniel Kehlmann - Eine allzu vergessene Zeit


Tyll hat alles verloren und doch die Vernunft behalten. Es klingt vielleicht grotesk einen Schausteller und Unheilbringer als vernünftig zu bezeichnen, doch scheint er der klügste Kopf einer verdummenden Gesellschaft zu sein. Es ist die Zeit des Dreißigjährigen Krieges und die Zeit der Mythen, Sagen und gehirnlosen Menschen. Die Reichen werfen Gerüchte in die Welt und die dumme Bevölkerung tobt und schlägt sich die Köpfe ab. Ein Drittel der Bevölkerung stirbt in der Zeit von 1618-1648. Aber was macht Tyll Ulenspiegel eigentlich in dieser Zeit? War er nicht bereits im 14. Jahrhundert geboren worden (zumindest die historische Figur, die in Analogie gestellt wird Till Eulenspiegel)? Das stimmt, aber es ist die Genialität, die diesen Roman ausmacht.


Als Tylls Vater, Claus, zum Müller wurde und die Mühle seines Schwiegervaters übernahm, liebte ihn seine Frau Agnata, die froh war, dass sie nicht den versprochenen, hässlichen Nachbarn heiraten musste. Mit den Jahren beschäftigte sich Claus nur noch mit Büchern. Da es zu dieser Zeit beinahe unmöglich war an Bücher zu kommen und es nur den Reichen und Adeligen vorbehalten war, musste er sie sich stehlen. Er führte viele Experimente durch und sinnierte über die Rätsel der Welt. In der Welt des 17. Jahrhunderts war dies jedoch extrem gefährlich. Er gehörte zum niederen Stand und somit hatte er nicht zu rätseln. So kam er unter Verdacht ein Hexer zu sein. Tyll erkannte die Gefahr und flüchtete von zu Hause. Es begann die Zeit der Flucht und der Abenteuer.


Daniel Kehlmann ist einer der bedeutendsten und intellektuellsten deutschen Schriftsteller. Er hat vor allem mit "Die Vermessung der Welt" Kultstatus erreicht und dieses Buch ist sogar noch besser. Man bekommt hier keine lineare Geschichte geliefert. Wirre Zeitsprünge und viele Handlungsorte passieren die Geschehnisse, doch bekommt man nie das Gefühl, dass man sich auf einem verwirrten Handlungsablauf befindet. Vielmehr möchte man immer mehr von den Figuren erfahren und das ist die Kunst dieses Autors. Jede Figur enthält so viel Energie und eigene Identität, sodass man sich keine Figur fortwünscht, sondern immer mehr Inhalte.


Wo auch immer Tyll auftaucht, ist das Unheil nicht weit. Die Leute bewundern seine Schauspielkunst und er gewinnt an so viel Berühmtheit, dass sogar der Kaiser ihn als Hofnarren haben möchte. Implizit zeigt er der Bevölkerung, wie dumm und hirnlos sie die Dinge auf der Welt geschehen lassen. Mit einfachen Mitteln hetzt er sie auf und lässt sie verwirrt zurück. Aber die Kunstfertigkeit besteht auch darin, dass er es auch mit den großen der Szene aufnimmt. Er lässt den Intellektuellsten Zeitgenossen Athanasius Kircher verstummen. Begleitet Friedrich, den ehemaligen König von Böhmen bis zu seinem nahtlosen Ende und begegnet immer wieder seiner Frau Elizabeth, der Enkelin von Maria Stuart, die ebenfalls all ihren Ruhm verliert.Aber Tyll ist auch ein Wegbereiter. Sieht Dinge in den Menschen, die sonst niemand sieht. So auch bei seiner "Schwester" Nele. Er zieht sie aus dem Dreck. Er bringt ihr Dinge bei und hält sie von ihren Wegen nicht ab. Alleine die Geschichte um Nele ist so herzhaft, dass es wert ist, dieses Buch zu lesen.Außerdem ist Tyll ein Mensch des Lebens. Während um ihn herum die Menschen tot umfallen, will er nur leben. Er will nicht sterben. Und zwar NIE sterben. Er weiß es gibt den Tod. Aber er sucht ihn nicht und will ihn nicht.


Dieses Buch ist ein wahres Meisterwerk und für mich das qualitativ beste Buch dieses Jahres. Es verkörpert eine allzu vergessene Zeit und führt uns in die narrenhafte Zeit der Menschheit. Außerdem gebärt sie eine Figur, die seinesgleichen sucht. Eine Figur, die uns das Leben theatralisch vorführt und doch so erscheinen lässt, als wäre unser Leben ein Theater und nicht die Bühne auf der sie tanzt.

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